Seit Corona hält der Boom überall in Deutschland an: Immer mehr Menschen steigen im Winter in eiskaltes Wasser. Warum nur tun sie das? Unser Autor ist Wiederholungstäter, er startet Ende Februar bei den Deutschen Meisterschaften im Eisschwimmen. Ein Erklärungsversuch.
Fühlt sich an wie ein paar tausend Stecknadeln in der Haut, überall am Körper kribbelt’s und zwickt’s. Anfang Januar, Ludwigsburg-Hoheneck: Das trübe Neckarwasser hat knapp drei Grad. Viel kälter wird der Fluss fast nie. Mein Kumpel Bert vom Schwimmverein Ludwigsburg und ich sind im Winter alle paar Tage für ein kurzes, knackiges Training in unserem Neckar. Oft ist uns das Wasser noch zu warm, hat sechs, sieben oder sogar acht Grad. Bei Temperaturen deutlich unter fünf sind die Hände und Füße ganz besonders empfindlich. Deshalb tragen viele Eisbader Handschuhe und Socken aus Neopren. Das ist uns Schwimmern bei Wettkämpfen verboten. Also kraulen wir auch an diesem eiskalten Januartag wieder komplett ungeschützt. Die Finger und Zehen sind spätestens nach ein paar Minuten taub, das Gefühl ist komplett weg.
Im Neckar schwimmen wir zunächst flott gegen die Strömung, mit Start beim Freibad und dann in Richtung Schleuse Poppenweiler. Ein magischer Moment. Speziell morgens, wenn die Sonne eben erst aufgegangen ist. Mitunter liegt dann ein Nebelschweif auf dem Neckar. Mystisch. Gigantisch. Was für ein Start in den Tag! Wenn ich im eiskalten Wasser kraule, nur mit einer schnöden Badehose bekleidet, mit einer Kappe und einer Schwimmbrille auf dem Kopf, dann sind im Nu alle schlechten Gedanken wie weggeblasen. Ärger im Alltag? Zählt jetzt nicht. Während der gut fünfzehn Minuten im Fluss konzentriere ich mich voll aufs Schwimmen. Langsam ein- und ausatmen! Langsame, kräftige Kraulzüge. Ein Zug rechts, einer links, der nächste rechts, dann wieder einer links. Ich bin nur im Hier und Jetzt. Genieße den Augenblick.
1.000 Meter bei 5 Grad
Ärzte sagen, der Körper produziert beim Eisschwimmen Endorphine, Glückshormone. Ich hab das nicht überprüft, kann nach fast zehn Jahren Eisschwimmen aber sagen: Ja, Eisschwimmen macht glücklich. Nach so einem coolen, kleinen Training steige ich immer mit einem Grinsen im Gesicht aus dem Wasser, weil ich weiß: Du hast es wieder geschafft! Hast wieder den inneren Schweinehund überwunden, bist wieder rund 1.000 Meter weit gekrault bei weniger als fünf Grad. Wow. Ich bin vermutlich längst süchtig. Wer einmal in eiskaltem Wasser geschwommen ist, tut das entweder nie wieder – oder immer wieder. Ich gehöre zur zweiten Gruppe.
Warum nur macht Ihr das? Seid Ihr verrückt? Solche Fragen stellen uns im Winter alle möglichen Leute. Immer wieder. Freunde, Bekannte, Fremde, die uns zufällig am Ufer treffen. Ja, warum nur schwimme ich mehrmals die Woche im eiskalten Wasser? In Seen, Flüssen, im Meer, wo auch immer. Hauptsache kalt. Je kälter das Wasser, desto besser. Unter fünf Grad sind top, denn nur unter fünf Grad gelten bei den Wettbewerben der International Ice Swimming Association die Rekorde.
Schon wieder? Diese Frage habe ich tatsächlich selbst immer im Kopf, kurz vor dem Start, wenn ich fröstelnd am Neckarufer stehe. Bis Du womöglich doch verrückt? Ein klein bisschen zumindest. So etwas macht doch kein normaler Mensch! Solche Gedanken kennt jeder Eisschwimmer. Eine Viertelstunde lang bei fünf, vier, drei oder nur zwei Grad Wassertemperatur kraulen, möglichst schnell. Das kann nicht normal sein! Wobei mein Eisschwimmfreund Günter mit einem Augenzwinkern behaupten: Wir sind die Normalen! Mein persönlicher Kälterekord: minus 0,7 Grad in der Nordsee vor Sylt, geschwommen im ersten Corona-Winter vor Hörnum. Einmal bin ich von dick in mehreren Schichten Kleidung eingepackten Touristen im Dezember am Strand nach dem Schwimmen gefragt worden, ob ich eine Wette verloren hätte. Eine Wette mit einem komplett irrwitzigen, womöglich lebensgefährlichen Einsatz. Nein, ich hab’ keine Wette verloren. Und Schwimmen im eiskalten Wasser ist auch nicht gefährlich – wenn man ein paar Regeln beachtet.
„Ich hab da was Neues für Dich“
Schuld an meinem ungewöhnlichen Lieblings-Wintersport ist übrigens der Oliver. Oliver Halder aus Winnenden. Er veranstaltet seit vielen Jahren alle möglichen (und auch ein paar schier unmögliche) Schwimmwettbewerbe. Etwa die Internationalen Deutschen Wildwassermeisterschaften im tosenden Inn, die leider seit einiger Zeit nicht mehr stattgefunden haben. Oliver, es wäre mal wieder an der Zeit! Eines Tages also stand dieser Oliver vor mir – ich meine, es war am Beckenrand des Wunnebads in Winnenden. „Ich hab’ da was Neues für Dich“, sagte der Oliver und hat frech gegrinst: „Eisschwimmen“. Eis-was hab ich geantwortet. Naja, so der Oliver weiter: Wettkämpfe schwimmen wie im Sommer, nur eben bei Wassertemperaturen knapp über dem Gefrierpunkt. Meine schnelle Antwort damals: Ich starte zwar seit Jahrzehnten bei Schwimmwettbewerben, aber so etwas Verrücktes mache ich ganz bestimmt nicht. Dachte ich damals wirklich. Es kam anders. Und das ist gut so.
Der Oliver ließ nicht locker, schenkte mir einen Freistart für die ersten Ice Swimming German Open im Wöhrsee. Ich hab das Ticket akzeptiert, weil … nun ja, wenn der (Halb)Schwabe etwas geschenkt bekommt, dann nimmt er’s halt. Und dann muss er auch ran. Ich musste also rein in den saumäßig kalten See im bayerischen Burghausen. Ich bin damals, Anfang Januar 2015, nur eine einzige Bahn Freistil geschwommen: 25 Meter weit. Das war cool, ich war stolz wie Bolle – und angefixt. Und hatte diese Frage im Kopf: Geht da noch mehr? Die Schwimmer, die damals im Wöhrsee die langen Stecken geschwommen sind, die 500 und die 1000 Meter, ich hab’ sie bewundert, einerseits. Ich dachte aber auch: Ihr seid doch vollkommen bekloppt.
Der Olymp ist die Eismeile
Seither sind fast zehn Jahre vergangen. Viele top Schwimmer haben mittlerweile das Eisschwimmen für sich entdeckt. Andreas Waschburger zum Beispiel, der Mann aus Saarbrücken, der im vergangenen September in Rekordzeit den Ärmelkanal überquert hat. Und ich bin x-mal die 1.000 Meter im Training geschwommen, im Neckar, in der Nordsee, in allen möglichen Seen im Schwäbischen Wald und in Bayern und sonst wo. Ich hab viele Medaillen bei Wettkämpfen über die 1.000 Meter gewonnen, war 2020 und 2023 Vize-Weltmeister in meiner Altersklasse, einmal über die 1.000 Meter und dazu über ein paar kürzere Strecken. Zudem hab ich mich in den Olymp der Eisschwimmer gekrault: bin die verdammte Eismeile geschwommen, 1.609 Meter weit, in rund 27 Minuten. Ich war Anfang dieses Jahres in die SWR-Landesschau eingeladen und hab live vom Eisschwimmen erzählt. Warum macht Ihr das? Das wollte der Moderator wissen. Diese Frage bleibt allen Eisschwimmern vermutlich auf wenig erhalten. Die kurze Antwort: Weil wir es können. Die längere: Weil Eisschwimmen ein grandioser Sport ist. Weil man beim Kampf gegen die Kälte alle Alltagsprobleme ausblenden kann (und muss), um ein selbst gestecktes Ziel in kurzer Zeit zu erreichen. Eisschwimmer wissen: Erfolge in diesem Extremsport lassen sich übertragen auf andere schwierige Situation im Leben. Kaltwasserschwimmen ist Prophylaxe und Selbsttherapie zugleich. Außerdem ist Eisschwimmen gesund. Wer sich regelmäßig den widrigen Bedingungen in kaltem Wasser aussetzt, stärkt die Abwehrkräfte. Ich bin seit Jahren kaum mehr erkältet.
Aber Obacht! Alle Neulinge sollten sich vor dem ersten Ausflug ins Eiswasser von einem Arzt gründlich durchchecken lassen. Ich mache einmal im Jahr ein Belastungs-EKG und bin alle zwei Jahre beim Kardiologen. Kleiner Tipp: Ärzte und Ärztinnen, die selbst Sport treiben, haben mehr Verständnis für verrückte Hobbys wie Eisschwimmen. Wenn der Mediziner sein Okay gibt, drei weitere wärmste Empfehlungen für alle künftigen Eisschwimmerinnen und Eisschwimmer: Geht nie allein ins eiskalte Wasser. Nehmt immer eine Schwimmboje mit, an der Ihr Euch notfalls festhalten könnt. Wärmt Euch nach dem Schwimmen langsam auf, trinkt warmen Tee. Geht auf keinen Fall sofort in die Sauna, denn das könnte lebensgefährlich werden.
In diesem Winter hab ich zunächst ein klein bisschen geschwächelt, war zwar so oft wie immer im Eiswasser, bin bis dato aber noch keinen Wettkampf geschwommen. Der rechte Ellbogen zwickt. Für einen Sportler, Jahrgang 1965, ist Eisschwimmen leider auch kein Allheilmittel. Am letzten Samstag im Februar indes gilt’s: Ich starte bei den Deutschen Meisterschaften im Eisschwimmen in einem kleinen See an der sächsisch-tschechischen Grenze. Der Ellbogen wird schon mitmachen. Muss sein. Die Zollhaus Open gehören zu den coolsten Wettbewerben überhaupt. Ein Winter ganz ohne Wettkampf im Freiwasser? Geht gar nicht! Verrückt? Ja: schwimmverrückt.
Dieser Text erschien zuerst in der Stuttgarter Zeitung.