Donnerstag, 18. April 2024

Das Zusammenspiel von Nerven und Muskeln

Der Ausdauersport ist bestimmt durch Disziplinen mit gleichförmigen, immer wiederkehrenden Bewegungsabläufen. Erst die dadurch mögliche Ökonomisierung der Gesamtbewegung ermöglicht eine konstant hohe Leistung, wie sie beispielsweise im Schwimmen, im Radsport, dem Langstreckenlauf oder in der Synthese aller drei Sportarten, dem Triathlon, gefordert ist. Denn die immer (annähernd) gleiche Bewegungsausführung schont nicht nur die Energiesysteme, sie belastet auch das zentrale Nervensystem weniger als reaktive Sportarten wie beispielsweise Tennis, Fußball oder Kampfsportarten. Zudem beansprucht die relativ gleichmäßige Intensität genau jene energieliefernden Systeme, die sich im Verlauf eines langen Trainings oder eines Wettkampfs durch Nahrungsaufnahme zumindest teilweise wieder auffüllen lassen. Vor allem die Verbrennung von Kohlenhydraten und Fetten unter Nutzung von Sauerstoff (aerobe Energiegewinnung) spielt hier eine große Rolle. Durch gezieltes Training können Sie diese Energiesysteme bis zu einem gewissen Grad entwickeln und auf die spezifische Belastung vorbereiten.

Sieben Minuten pro Woche

Die maximale Sauerstoffaufnahmefähigkeit (VO2max) eines Sportlers gilt deshalb neben der Auswertung der Laktatkurve als ein wesentliches Kriterium für die Beurteilung der Ausdauerleistungsfähigkeit. Sie gibt Auskunft über die Kapazität von Sauerstoffzufuhr, -transport und -verwertung. Ausgedrückt wird sie üblicherweise in relativen Werten, bezogen auf das Körpergewicht – also in Millilitern pro Kilogramm und Minute (ml/kg/min). Seit geraumer Zeit jedoch beobachten Wissenschaftler, dass sich diese Werte zumindest im Spitzensport trotz modernster Trainingsmethoden nicht mehr bedeutsam verbessern. Seitdem untersuchen Sportmediziner und Trainingswissenschaftler mit ganz unterschiedlichen Methoden die Bedeutung der VO2max für die Gesamtleistung. Und kamen dabei auf zum Teil überraschende Ergebnisse, die inzwischen in die moderne Trainingslehre Einzug gehalten haben.

So untersuchte beispielsweise eine Studie der Ball State University im US-amerikanischen Muncie, Indiana, im Jahr 2004 die Wirksamkeit eines jeweils 30-sekündigen Sprinttrainings bei trainierten Radfahrern. Gerade einmal sieben Minuten pro Woche belasteten sich die Probanden auf diese Weise, dennoch zeigte der abschließende Leistungstest nach vier Wochen gegenüber der Kontrollgruppe deutliche Verbesserungen der Gesamtarbeitsleistung, der Maximalkraft und der Ausdauerleistung. Mittels eines sogenannten EMGs, einer Untersuchung, bei der die elektrische Aktivität von Nerven- und Muskelzellen aufgezeichnet wird, konnten die Wissenschaftler ein verbessertes Zusammenspiel von Nerv und Muskel für dieses Ergebnis verantwortlich machen. Grund genug, einmal einen genaueren Blick auf die typische Belastungsstruktur der Ausdauersportarten zu werfen.

Lernfähiges Nervensystem

Neben dem immer wiederkehrenden Bewegungsmuster ist der stete Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung ein wichtiges Merkmal zyklischer Sportarten. Dabei dienen die Überwasserphase beim Schwimmen, die Aufwärtsbewegung beim Radfahren und die Schwungbewegung beim Laufen auch dem Zweck der Erholung, während der Armzug, das Herunterdrücken der Kurbel und der Bodenkontakt und Abdruck vom Boden jeweils für den eigentlichen Vortrieb sorgen. Verbessert der Sportler durch bestimmte Trainingsmethoden das Zusammenspiel der an diesen Bewegungen beteiligten Muskelgruppen, wird die Bewegung ökonomischer. Bei gleichem Energieaufwand steigt also die vortriebsrelevante Leistung. Folgerichtig müsste sich im Wettstreit zweier Sportler mit vergleichbarer VO2max und ähnlichen biomechanischen Voraussetzungen derjenige durchsetzen, dessen Feinsteuerung der Muskeln besser aufeinander abgestimmt ist.

Von außen lässt sich die Qualität dieses Zusammenspiels allerdings kaum erkennen. Denn die Geschwindigkeit, mit der das Nervensystem die Muskulatur ansteuert, darf nicht verwechselt werden mit der allgemeinen Bewegungsgeschwindigkeit. Ein Beispiel dafür sind die zahlreichen Duelle der beiden Radsportler Lance Armstrong und Jan Ullrich während der schweren Bergetappen der Tour de France. Immer wieder gab es danach Diskussionen, welcher Fahrstil denn nun der geeignetere sei: der hochfrequente Spinning-Stil Armstrongs oder der langsame, kraftbetonte Tritt Ullrichs. Doch beide hatten ihren Fahrstil im Laufe ihrer sportlichen Entwicklung bis zur Perfektion automatisiert, ihre Muskulatur arbeitete unter den jeweiligen Voraussetzungen optimal. Der Unterschied in der Trittfrequenz war natürlich angelegt.

Verantwortlich für die inter- (zwischen verschiedenen Muskeln ablaufende) und intramuskuläre (innerhalb eines Muskels stattfindende) Koordination ist das Zentralnervensystem, das Gehirn. Es steuert mit über die Nervenbahnen geleiteten elektrischen Impulsen Anspannung (Kontraktion) und Entspannung (Relaxation) der Muskeln und koordiniert so deren Zusammenspiel. Dabei kann es durch ständig neue Verschaltungen Bewegungsabläufe ökonomisieren und automatisieren. Eine Fähigkeit, die sich die Trainingslehre zunutze machen kann, indem sie das Gehirn für ein optimales Kontraktions-Relaxations- Muster schult. Je schneller der Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung – dem regenerativen Anteil der Bewegung – gelingt, desto länger kann der Sportler eine hohe Leistung aufrecht erhalten.

1.000-mal ein bisschen besser

Bedeutet das nun die Abkehr von langen Grundlageneinheiten? Nein, natürlich ist das Training aller an der Ausdauerleistung beteiligten Organsysteme immer die Grundvoraussetzung für überdurchschnittliche Belastungen. Dennoch hat das Training der muskulären Koordination seinen Platz im Trainingsplan mehr als verdient. Ja, es ist sogar die Bedingung für individuelle Bestleistungen. Die Trainingsmethoden im Ausdauersport erfordern deshalb eine größere Vielfalt. Besondere Bedeutung kommt der Entwicklung der neuromuskulären Feinabstimmung bei Sportlern etwas höheren Alters zu. Denn natürlicherweise lassen dann als erstes Schnelligkeit, Muskelelastizität und Beweglichkeit (und damit die Amplitude der Bewegung) nach. Weitere Argumente also für ein Training kurzzeitiger Krafteinsätze.

Welchen Leistungsfortschritt aber dürfen Sie nun erwarten, wenn Sie Ihr Training entsprechend erweitern? Das lässt sich zwar nicht pauschal beziffern, doch ohne Effekt wird die Arbeit nicht bleiben. Denn neben der höheren Agilität ist die verbesserte (schnellere) Entspannungsfähigkeit der am Vortrieb beteiligten Muskeln im Ausdauersport sicher eine der wichtigsten Größen für eine Leistungsverbesserung. Und auch die damit einhergehende schnellere Aktivierung im nachfolgenden Bewegungszyklus wird Ihre Leistungsfähigkeit erhöhen. Wenn es Ihnen gelingt, bei jeder Bewegung ein wenig effizienter zu agieren, werden Sie schnell einen enormen Leistungssprung verzeichnen können. Und das Beste: Sie müssen dafür nur wenige Minuten pro Tag investieren.

Holger Lüning
Holger Lüninghttps://holgerluening.de/
Holger Lüning ist Sportwissenschaftler und Schwimmtrainer mit rund 30 Jahren Erfahrung im Hochleistungssport. Er schwamm er in der Bundesligamannschaft des EOSC Offenbach und gewann im Masterbereich zahlreiche Meistertitel.