Bei klarem Wetter erscheint die Entfernung zwar immer noch beachtlich, aber sie verliert ein wenig von ihrem Schrecken, den die bloße Zahl offenbart: 33 Kilometer. So weit ist die Entfernung zwischen Kontinentaleuropa und der Insel Großbritannien an der engsten Stelle des Ärmelkanals. Vom Cap Gris-Nez in Frankreich, rund 26 Kilometer südwestlich von Calais, kann man bei gutem Wetter die weißen Kreidefelsen des Shakespeare Cliff erkennen, die sich rund sechs Kilometer südwestlich von Dover befinden. Aber schwimmen? 33 Kilometer – das gilt nur für den direkten Weg. Wer ins Wasser steigt, um von England nach Frankreich zu schwimmen, sollte damit rechnen, einige Zusatzkilometer zu absolvieren. Bevor man sich aber zu den bisher 2.500 erfolgreichen Kanalschwimmern gesellen darf, gilt es, einige Punkte zu beachten. Wir geben eine Übersicht rund um das Projekt Kanalschwimmen.
Wer darf durch den Kanal schwimmen? Grundsätzlich jeder, aber es gibt Einschränkungen. Wer das Projekt angehen möchte, muss nicht unbedingt schnell, aber ein kompetenter Schwimmer sein und Erfahrung mit kaltem Wasser haben. „Dazu gehört der Nachweis, in der Lage zu sein, mindestens sechs Stunden in Gewässern mit einer Temperatur unter 60 Grad Fahrenheit (das entspricht ca. 15,5 Grad Celsius, Anm. d. Red.) schwimmen zu können“, sagt Susan Ractliffe von der Channel Swimming Association. Die CSA ist eine von zwei Organisationen, die offiziell die Erlaubnis haben, Kanalschwimmen durchzuführen. Von jedem Schwimmer wird außerdem eine gründliche medizinische Untersuchung verlangt.
Darf ich auf eigene Faust durch den Kanal schwimmen? Wer die erforderlichen Nachweise erbracht hat, kann nicht einfach ins Wasser steigen und losschwimmen. „Es wäre sehr gefährlich, den Versuch zu unternehmen, den Ärmelkanal allein zu durchqueren“, sagt Ractliffe. Schließlich gehört der Ärmelkanal mit einem Aufkommen von bis zu 600 Schiffen am Tag zu den meistbefahrenen Wasserstraßen der Welt und unterliegt Ebbe und Flut. Daher begleiten Lotsenboote die Schwimmer bei ihrem Abenteuer. „Der Lotse muss die Gezeiten sehr gut kennen. Die englische und französische Küstenwache beobachten die Überquerung des Ärmelkanals sorgfältig. Jeder Lotse wird registriert und die Küstenwache vor jeder Querung benachrichtigt“, so Ractliffe. Die Kapitäne müssen über entsprechende Qualifikationen verfügen. Viele von ihnen begleiten schon seit Jahren Schwimmer über den Kanal. Wer es trotz allem auf eigene Faust versucht, wird nicht weit kommen. „Die Küstenwache würde jeden sofort aufhalten“, betont Ractliffe. Eine Anklage vor Gericht wäre die Folge.
Bei wem melde ich mich für eine Kanaldurchquerung an? Das Kanalschwimmen erfolgt entweder mit der 1927 gegründeten CSA oder mit der Channel Swimming and Piloting Federation (CS&PF). Nur diese beiden Organisationen sind dazu berechtigt, Kanalquerungen durchzuführen und zu zertifizieren. Bei der eher traditionell ausgerichteten CSA kauft man online ein „Schwimmpaket“ und erhält im Gegenzug die Unterlagen für das Schwimmen. Die Formulare müssen ausgefüllt und bis April des angedachten Schwimmjahres an den Verband zurückgeschickt werden. Die CS&PF wurde vor 20 Jahren gegründet und ist bekannt dafür, auch unorthodoxe Versuche durchzuführen. Wer beispielsweise Delfin schwimmen möchte (das gab es schon dreimal) oder eine andere verrückte Idee hat, meldet sich besser bei dieser Organisation an. Beide Verbände begleiten jedes Schwimmen mit einem Observer, der auf die Einhaltung der strengen Regeln achtet.
Mit welchen Kosten muss ich rechnen? „Ein Lotsenboot für einen Trip kostet ungefähr 3.000 britische Pfund“, sagt Ractliffe. Das sind umgerechnet etwa 3.615 Euro. „Der Preis variiert je nach Lotse leicht und ist unabhängig vom organisierenden Verband.“ Die Channel Swimming Association fordert für die Überquerung 351 britische Pfund (423 Euro). „Die Gelder beinhalten ein Schwimmpaket im Wert von 35 Pfund plus Porto sowie eine Mitgliedschaft, die Verwaltungsgebühr und die Kosten für den Beobachter auf dem Boot“, rechnet Ractliffe vor. Ein Staffelschwimmen kostet 425 Pfund (512 Euro). Die CSA-Offizielle gibt zu bedenken: „Zu der Querung selbst kommen Kosten für die Verpflegung, die Unterkunft und die Reise hinzu.“ Anke Tinnefeld aus Elmshorn bei Hamburg, die 2018 als insgesamt 14. deutsche Frau durch den Kanal schwamm, erklärt: “Insgesamt, mit Trainingslager auf den Balearen, Flügen, Unterkunft und Verpflegung, habe ich ungefähr 8.000 Euro gezahlt.“
Wie lange muss ich warten, bis ich starten kann? Geduld ist beim Kanalschwimmen eine Tugend, denn nicht nur das Schwimmen selbst dauert lange, auch die Vorbereitung auf das Schwimmen und das Warten auf den Start kann dauern. „Die Lotsen werden Jahre im Voraus gebucht“, erklärt Ractliffe. „Wir haben jedes Jahr circa 200 Startplätze, darunter sowohl Solo- als auch Staffelschwimmen.“ Derzeit beträgt die Wartezeit auf ein freies Zeitfenster etwa zwei Jahre, könnte sich aber durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie noch verlängern, schließlich hatte bis Ende Juni noch kein Kanalschwimmen stattgefunden. Genug Zeit immerhin, sich gewissenhaft auf das Abenteuer vorzubereiten. „Der Papierkram mit dem ärztlichen Attest und dem Schwimmzeugnis wird jedoch erst im Jahr des Schwimmens verschickt. Wir müssen schließlich sicherstellen, dass die Schwimmer zeitnah nachweisen, dass sie fit und gesund sind.“ Wenn die Anmeldung geklappt hat, gibt es ein zweiwöchiges Zeitfenster, in dem man starten kann. Dann ist man noch vom Wetter und vom Piloten abhängig. „Der Kapitän allein entscheidet, ob die Bedingungen einen Start zulassen“, sagt Anke Tinnefeld. Ist im vereinbarten Timeslot kein Start möglich, kann es passieren, dass man trotz bester Schwimmform unverrichteter Dinge aus Dover abreisen muss. Eine Möglichkeit gibt es aber noch, sagt Tinnefeld. „Man sollte mit seinem Piloten in Verbindung bleiben. Manchmal sind ein oder zwei Wochen später noch Plätze frei, weil andere Schwimmer schneller als geplant waren. Dann kann es noch passen.“
Welche Route bietet sich an? Die Route von Frankreich nach England gilt wegen der günstigeren Strömung als schneller. „Aber diese Überquerung ist nun nicht mehr erlaubt“, sagt Ractliffe. In den 1990er-Jahren wurde das immer beliebter gewordene Kanalschwimmen von französischer Seite aus verboten, um die Zahl der Schwimmer zu reduzieren. Einzige Ausnahme: Man schwimmt eine Doppelquerung England–Frankreich–England, dann nämlich lässt sich der Rückweg von Frankreich aus nicht mehr verhindern. Für Anke Tinnefeld war das keine Option. Sie schwamm die normale Soloquerung. „Ich hatte geplant, zwischen 13 und 15 Stunden unterwegs zu sein. Am Ende waren es 15:13 Stunden. Insgesamt bin ich 43 Kilometer geschwommen, weil die Tide zwangsläufig dafür sorgt, dass man abgetrieben wird.“
Wann herrschen die besten Bedingungen? Als optimale Zeit galt lange der August durch seine langen Tage und mit durchschnittlich 18 Grad relativ warmem Wasser. Die Temperaturen können aber auch auf 20 Grad steigen – oder auf 16 Grad und darunter fallen. Dann wird es ungemütlich. „In den letzten Jahren war oft der September sehr freundlich und das Wasser immer noch warm“, so Ractliffe. Freundliches Wetter sorgt für gute Sicht. Das ist zumindest nicht von Nachteil, wenn man möglichst direkt auf die andere Seite schwimmen möchte. Ansonsten können Strömung und Gezeiten für mehr ungewollte Extrakilometer sorgen als geplant.
Welche Gefahren lauern bei einer Kanalüberquerung? Bis auf Feuerquallen sind Tiere im Kanal selten ein Problem. Die größte Gefahr ist die Selbstüberschätzung. Oder wenn das Wetter umschlägt. Dann ist es gut, einen neutralen und rational denkenden Piloten an Bord zu haben, der ein Problem erkennt und entsprechend handelt. „Es liegt in der Verantwortung des Kapitäns zu entscheiden, wann er ein Schwimmen abbricht und jemanden aus dem Wasser holt“, sagt Tinnefeld. Die Schwimmer sind zu einer solchen Entscheidung häufig gar nicht in der Lage. Sie sind im Rausch und spüren nicht, wenn etwa eine lebensgefährliche Unterkühlung droht. Auch die Begleitcrew will ein herannahendes Problem oft nicht wahrhaben, etwa wenn der Wind dreht und ein Sportler über Stunden auf der Stelle schwimmt, ohne einen Meter voranzukommen. „Als bei mir die Tide nach sechs bis sieben Stunden wechselte und sich die Wellenbewegungen änderten, fiel es mir sehr schwer, mich anzupassen und meinen Rhythmus wiederzufinden“, berichtet Tinnefeld. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen gab es bereits zehn Athleten, die das Abenteuer Ärmelkanal mit ihrem Leben bezahlten. Zuletzt verstarb 2017 ein 44-jähriger Brite, der nach etwa 20 Kilometern im Kanal plötzlich über Unwohlsein klagte. Obwohl er innerhalb kürzester Zeit nach England geflogen wurde, starb er kurz darauf im Krankenhaus.
Welche Schwimmbekleidung ist erlaubt? Mit einem Wetsuit den Kanal zu durchschwimmen, macht vieles einfacher. Schwer genug bleibt es trotzdem. Und dennoch: „Wir erlauben keine Durchquerungen mit Neoprenanzügen“, heißt es von der CSA. Erlaubt sind lediglich Badeanzug oder Badehose, Badekappe und Schwimmbrille. Bis auf die Kappe und die Brille schwamm so schon Captain Matthew Webb anno 1875 als Erster von England nach Frankreich. „Wenn es jedoch medizinische oder religiöse Gründe gibt, aufgrund derer die Schwimmer davon abweichen müssen, müssen sie sich schriftlich an den Vorstand wenden, um eine besondere Berücksichtigung zu erhalten. Das Schwimmen würde dann als Schwimmen der ‚besonderen Kategorie‘ eingestuft werden“, erläutert Ractliffe.
Wie verpflege ich mich im Wasser? „Ernährung ist ein individuelles Thema im Wasser. Ich habe alle 20 bis 30 Minuten etwas zu mir genommen“, erinnert sich Tinnefeld: „Die kleineren Portionen waren für mich bekömmlicher als große Mahlzeiten.“ Man muss wissen, dass ungefähr 1.000 Kilokalorien pro Stunde verbraucht werden. „Das kann man nicht alles auffüllen“, erläutert Tinnefeld. „Man muss im Training ausprobieren, wie viel man während des Schwimmens wieder aufnehmen kann. Bei mir waren es 450 Kilokalorien pro Stunde, bei mehr Energie ist mir schlecht geworden.“ Auch was man zu sich nehmen sollte, ist von Sportler zu Sportler verschieden. „Ich habe Dosenpfirsiche gegessen und Flüssigkeit mit Kohlenhydratpulver. Das kann man höher dosieren, gemixt mit Honig. So musste ich nicht extra zusätzlich trinken. Die Flasche wurde mir mit einem Seil ins Wasser gereicht.“
Welche Taktik ist am besten? Vollgas oder gemütlich? Da hat jeder seine Sichtweise. Anke Tinnefeld hat einen Kompromiss gewählt. Die Elmshornerin schwamm zwar zügig, „aber ich hatte immer Reserven, dass ich zwischendurch das Tempo bei Bedarf anziehen konnte. Das war auch ein paar Mal nötig.“ Nach rund sechs Stunden hatte sie einen größeren Durchhänger. „Das war genau die Zeit, die ich im Training geschwommen bin. Danach wurde es erst mal hart. Als ich den Punkt aber überschritten hatte, ging es wieder leichter von der Hand.“
Wie läuft der Start ab? Einschwimmen braucht man sich bei so einer Strecke nicht. „Man belädt das Boot mit seinem Equipment, wird mit Vaseline eingeschmiert, bereitet sich vor. Dann fährt man mit dem Piloten in einem Schlauchboot zu einem Strand, muss einmal komplett aus dem Wasser gehen. Dann gibt er ein Startsignal. Sobald man einen Fuß ins Wasser setzt, gibt es kein Zurück mehr, sonst ist das Projekt beendet“, so Tinnefeld.