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Wasserkind schwimmt Weltrekorde

(Dieser Artikel erschien zuerst in der Esslinger Zeitung.)

Die achtjährige Gertrude Ederle aus New York ist ein aufgewecktes Kind. Ein Kind, das Wasser liebt. Das Mädchen, das von allen Trudy gerufen wird, ist im Frühsommer 1914 zu Besuch bei der Großmutter, die in Bissingen wohnt. Jenem Ort, aus dem ihr Vater stammt. Das Haus der Oma liegt in der Nähe des Bissiger Sees. Was für eine Gelegenheit!

Damals ahnt niemand, dass diese kleine Trudy zwölf Jahre später mit Schwimmen Geschichte schreiben wird. Dass dieses Kind die Welt verändern wird. Dass ihr daheim in New York bei einer grandiosen Konfettiparade geschätzt zwei Millionen Menschen zujubeln werden wegen ihrer grandiosen Erfolge als Schwimmerin.

Im Sommer 1914 also sind die Ederles auf Stippvisite bei der Verwandtschaft in Bissingen/Teck. Trudys Vater Heinrich, später Henry, ist 1892 als 16-jähriger Teenager nach Amerika ausgewandert. Der Metzgersbub ist eins von 20 Kindern. In den USA arbeitet sich der Henry hoch. Gründet eine Familie. Kommt zu Wohlstand.

Sammlung Erik Eggers Trainer Burgess mit den Schwimmerinnen Lillian Cannon und Gertrude Ederle (rechts).

Schwimmen lernen im Bissinger See

Trudy hat zwei ältere Schwestern, Helen und Margaret, sowie drei jüngere Geschwister: George, Emma und den Nachzügler Henry Junior, der erst 1919 geboren wird. Bei dem Besuch 1914 in der alten Heimat sind die drei älteren Mädchen oft am Bissinger See, der von den Menschen im Flecken liebevoll „Sai“ genannt wird. Trudy kann aber noch nicht schwimmen. Mit ihren großen braunen Augen beobachtet das Mädchen sehnsüchtig die zwei älteren Schwestern, die im Wasser planschen. Ein herzzerreißender Anblick. Trudy will auch schwimmen können. Der mitfühlende Vater fasst spontan einen Entschluss. So beschreibt Anne-Kathrin Kilg-Meyer in ihrem kürzlich erschienen Buch „Eine Schwimmerin verändert die Welt“ jenen Tag, der das Leben von Trudy Ederle für immer verändern wird.

Die US-Amerikanerin mit den schwäbischen Wurzeln wird in den goldenen Zwanzigerjahren Weltrekorde schwimmen und Medaillen bei den Olympischen Spielen in Paris sammeln. Sie wird als erste Frau, die den legendären Ärmelkanal zwischen Frankreich und England bezwingt, in die Geschichte eingehen. Mit einer Rekordzeit, die bis dato kein Mann geschafft hat. Jeder Ärmelkanal-Schwimmer, jede Ärmelkanal-Schwimmerin und viele sportbegeisterte Menschen in aller Welt werden bis in alle Ewigkeit ihren Namen kennen. An jenem Frühsommertag 1914 am Bissinger See bindet der Vater Ederle seiner kleinen Tochter einen Strick um die Taille. Anfangs ist alles ein unkoordiniertes Zappeln und Nach-Luft-Schnappen, erzählt Kilg-Meyer. Ein ziemliches Durcheinander. Doch der Vater bleibt geduldig. Und die große Schwester Margarete, genannt Meg, beruhigt Trudy, erklärt ihr, was sie besser machen muss. Jahre später – bei der erfolgreichen Kanalquerung – wird wieder Meg an Trudys Seite sein. Trudy wird zeitlebens erzählen, dass sie das Schwimmen von der französischen Küste bis nach Großbritannien niemals geschafft hätte ohne die Hilfe ihrer Schwester Meg.

Sammlung Erik Eggers Trainer Bill Burgess schmiert Ederle vor dem Start zum Ärmelkanalschwimmen mit einer Schicht Fett ein.

Pionierin des Frauensports

Damals im Bissinger See spürt Trudy erstmals dieses magische Gefühl der Schwerelosigkeit im Wasser, das jeder Schwimmer kennt. Sie spürt eine bis dato nie empfundene Harmonie, ein grandioses Wohlbefinden. Trudy kann schwimmen! Und wie dieses Kind schwimmen kann. Das alles geschieht zu einer Zeit, in der Frauenschwimmen gesellschaftlich verpönt ist. Frauen, die schwimmen, gelten vor gut einhundert Jahren als unmoralisch. Wenn Frauen überhaupt mal ins Wasser steigen, dann komplett bekleidet, mit langärmeligen Wollkostümen, mit unförmigen Röcken, mit Mütze auf dem Kopf und mit Schuhen oder mit Strümpfen.

Trudy hat seit einer Masernerkrankung im zarten Alter von fünf Jahren einen Hörschaden. Sie igelt sich deshalb oft ein. In fremder Umgebung zu sein, das strengt sie an. Ganz anders im Wasser. Trudy bezeichnet sich später selbst gerne als Wasserkind. Ein Wasserkind, das Weltrekorde schwimmt.

Die 1917 in den USA gegründete Women’s Swimming Association (WSA) wird für Trudy zur zweiten Heimat. Bei ihrem ersten Trainer Louis Handley lernt sie schön, schnell und effizient zu kraulen. Der Olympiasieger von 1904 im Freistilschwimmen und im Wasserball ist ein Freigeist. Und er ist mutig. Denn er trainiert auch Mädchen und Frauen. Handleys Schwimmerinnen beweisen: Frauen stehen körperlich und in ihrer Belastbarkeit auf einer Stufe mit Männern. Kilg-Meyer schreibt, dieses Verständnis habe enorme Tragweite gehabt und zu einer Gleichstellung geführt, „die weit über die sportliche Betätigung hinausgeht“. Trudy wird, so die Autorin, gewollt oder nicht gewollt, eine populäre Vertreterin der Frauenbewegung und fördert diese mit ihren sportlichen Erfolgen. Trudy trägt dazu bei, die Welt zu verändern – obgleich sie einem Journalisten einmal erklärt: „Wenn ich im Wasser bin, bin ich nicht auf dieser Welt.“

Sammlung Erik Eggers Triumphzug durch New York: Mehr als eine Million Menschen empfängt die Schwimmerin in den USA.

Gold und Bronze bei Olympia 1924

Die Olympischen Spiele 1924 in Paris werden für diese talentierte Sportlerin, die einst im Sai in Bissingen schwimmen gelernt hat, indes nicht zum ganz großen Erfolg: über 100 Meter Freistil und 400 Meter Freistil „nur“ Platz drei, aber Gold mit der US-Staffel. Immerhin. Trudy vermisst in Paris die Ungezwungenheit im Freiwasser. Und noch mehr vermisst sie während der langen Überfahrt mit dem Schiff und in Frankreich ihre Familie. Die Lockerheit fehlt ihr.

Zurück in den USA wird sie nach Olympia dennoch als Golden Girl gefeiert, in einem Atemzug mit Jonny Weissmüller genannt, der drei Olympiasiege mit nach Hause bringt. Trotz der eigenen Enttäuschung, nun kennt die ganze Welt Trudy Ederle. Mit ihrer Popularität, schreibt Kilg-Meyer, sorgt Trudy dafür, das das Schwimmen zwischen 1920 und 1930 zur beliebtesten Sportart von Frauen wird.

Jetzt will Trudy Ederle schaffen, was noch keiner Frau gelungen ist: den legendären Kanal bezwingen, von Frankreich bis England schwimmen. Sie will beweisen: auch Frauen können diese Höllenstrecke mit Wellen, Quallen und ungezählten Frachtschiffen packen. Ihr erster Versuch allerdings misslingt – offenbar wegen einer Schlechtwetterfront und Fehleinschätzungen ihres Trainer. Frustriert reist Trudy zurück nach New York. Sie wird in den USA aber Profisportlerin, tritt bei Shows auf.

imago images/Everett Collection Gertrude Ederle 1924.

Die Erfindung des Bikinis und der Schwimmbrille

Ihr Vater sucht Sponsoren, um ein zweites Kanalschwimmen zu finanzieren. Zusammen mit ihrer Schwester Meg hat Trudy eine schier unverschämte Idee: Die Schwimmerin wird kaum bekleidet, nur in einem Zweiteiler, antreten. Kilg-Meyer schreibt: Der Bikini ist erfunden. Auch wenn der Franzose Louis Réard, der offiziell als Entdecker des Bikinis gilt, erst 20 Jahre später in der Modewelt mit diesem Wort eine Revolution in der Bademode einleitet. Zudem tüfteln die zwei Ederle-Schwerstern erfolgreich an einer wasserdichten Brille für Trudy.

Der 6. August 1926 wird zu Trudys großem Tag. Daheim in den USA stehen die Wetten fünf zu eins gegen sie. Ihr Vater setzt die damals astronomisch hohe Summe von 25.000 Dollar auf seine Tochter. Er wird ein kleines Vermögen machen. Trudy startet kurz nach sieben Uhr am Morgen in Frankreich. Lange läuft alles nach Plans. Trudy ist schnell unterwegs, sehr schnell. Jede Welle, schreibt Kilg-Meyer, ist für Trudy wie ein Spielgefährte. Trudy schwimmt und schwimmt und schwimmt. Doch dann wird es ungemütlich. Sturm, hohe Wellen. Ein Mann auf dem Begleitboot ruft: „Komm raus, Mädchen! Komm raus!“ Aber Trudy antwortet nur: „What for?“ Wozu? Und sie kraut weiter. Immer weiter.

Nach 14 Stunden und 31 Minuten ist sie in England. Am Ziel ihrer Träume. Trudy Ederle bezwingt als erste Frau den Ärmelkanal. Das kleine Mädchen von einst, das im Bissinger Sai schwimmen gelernt hat, schreibt Sport- und Weltgeschichte. Erst 1950 wird ihre Zeit von einer anderen Schwimmerin geknackt. Bis ins hohe Alter, selbst fast taub, bringt Trudy Ederle schwerhörigen und gehörlosen Kindern schwimmen bei. Noch mit 85 Jahren krault sie besonders gerne im Atlantik. Das Wasserkind stirbt am 30. November 2003. Trudy Ederle wird 98 Jahre alt. Ihr Lebensmotto bleibt weit über ihren Tod hinaus Ansporn für viele Sportler in aller Welt: „Ich bin kein Mensch, der nach dem Mond greift – solang er die Sterne hat.“

Eriks Buchregal

Das Buch

„Gertrud Trudy Ederle – Eine Schwimmerin verändert die Welt“, Anne-Kathrin Kilg-Meyer, Verlag Eriks Buchregal. 16,90 Euro

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Martin Tschepe
Martin Tschepehttp://www.bahn9.de/
Martin Tschepe ist freier Autor, Swimguide, Freiwasser- und Eisschwimmer des SV Ludwigsburg.

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